Mein Vater erzählt oft eine Geschichte. Wir sitzen alle im Wohnzimmer und
er spricht von früher. Seine Mutter, er und sein Bruder sind bei der Freundin
von der Mutter zum Kaffeetrinken eingeladen. Mein Vater war etwa acht und
sein Bruder sechs Jahre alt. Noch zu Hause hat die Mutter zu ihnen gesagt:
„Jeder von euch darf nur ein Stück Kuchen essen.“
Später hat jeder von den beiden ein Stück Kuchen gegessen und die Freundin
hat sie gefragt: „Möchtet ihr noch ein Stück von dem Schokoladenkuchen?“
„Nein“, haben sie zur gleichen Zeit geantwortet und die Gabeln auf den Teller
gelegt. Meine Oma hat ihnen freundlich und zufrieden zugelacht. Sie hatte doch liebe Kinder.
Aber die Freundin war sehr erstaunt und hat noch einmal gefragt: „Das verstehe ich nicht. Schmeckt euch
mein Kuchen denn nicht?“ „Doch, sehr gut sogar“, hat mein Vater gesagt. „Und warum möchtet ihr dann
keinen mehr?“ Zuerst haben beide nichts gesagt und nur auf ihre Teller geguckt. Dann hat plötzlich der Bruder
von meinem Vater gesagt: „Wir dürfen nicht.“ Die Gabel von meiner Oma ist auf den Teller gefallen. „Scht“,
hat sie gemacht. Doch die Freundin hat schon weiter gefragt: „Nanu, warum denn nicht? Seid ihr krank?“
„Nein“, hat mein Vater geantwortet, „unsere Mutter hat es uns verboten. Wir dürfen nur ein Stück essen, hat
sie gesagt.“ Meine Oma ist ganz rot im Gesicht geworden. Aber mein Vater und sein Bruder haben noch
Schokoladenkuchen bekommen.
Ich habe meinen Onkel oft nach dieser Geschichte gefragt, aber er hat sie wahrscheinlich vergessen. Und
meine Oma? „Nein“, hat sie gesagt. „Das habe ich nie getan. Kannst du dir das etwa vorstellen?“ Nein, habe
ich gedacht.
Doch gestern waren wir in einem Restaurant. Meine Oma hat uns zum Essen eingeladen. Draußen vor der
Tür hat sie zu mir und meiner Schwester gesagt: „Jeder nur ein Getränk.“ Sie hat ganz streng geguckt und den
Zeigefinger hoch gehalten. Doch ich habe gelacht. Jetzt weiß ich es, mein Vater hat doch Recht.