Die Oma drückte fest auf die Klingel neben unserer Woh¬nungstür. Wir haben eine sehr laute Klingel.
Ich hörte den Oliver rufen: „Es klingelt, ich lauf aufma¬chen!"
Ich hörte auch die Stimme der Tatjana: „Ich will aufmachen, ich!"
Dann hörte ich Schritte. Es waren die Schritte der Amtsrätin. Die Schritte kamen zur Tür.
„Die Mutter vom Kurt", flüsterte ich.
Die Amtsrätin machte die Tür auf.
„GutenTag", sagte die Oma.
Die Amtsrätin schaute verwirrt drein. Sie kennt die Oma nicht. Der Oliver und die Tatjana standen hinter der Amts¬rätin.
„Wer ist das?", fragte er und zeigte auf die Oma.
„Ich bin die Oma von der Erika und der Ilse", sagte die Oma.
„Wer ist denn gekommen?", rief die Mama. Sie rief aus dem Bad.
„Die Erika und die Frau Janda sind hier", sagte die Amtsrä¬tin.
Aus dem Badezimmer hörte man sonderbare Geräusche. Die Mama musste sehr schnell aus der Wanne gestiegen sein und das Wasser schwappte wahrscheinlich in der Ba¬dewanne herum.
„Ich komme sofort", rief die Mama.
Die Amtsrätin sagte zur Oma: „Wollen Sie bitte ablegen?"
Die Oma zog ihren Mantel aus und hängte ihn an einen Haken. Ich hängte meinen daneben.
„Kommen Sie weiter", sagte die Amtsrätin. Sie sah noch immer verwirrt aus.
Wir gingen hinter der Amtsrätin her ins Wohnzimmer. Wir setzten uns auf die Couch. Ich saß dicht neben der Oma, und wenn es mir nicht so dumm vorgekommen wäre, dann hätte ich der Oma die Hand gegeben, damit sie die Hand festhält.
Der Oliver und die Tatjana standen bei der Wohnzimmertür und schauten neugierig zu uns her.
„Geht spielen", sagte die Amtsrätin.
Der Oliver schüttelte den Kopf. Die Tatjana sagte: „Nein!" Die Tatjana kam langsam und zögernd zu uns. Sie zeigte auf die Amtsrätin und dann auf die Oma und sagte:
„Das ist meine Oma und das ist die Oma von der Erika!"
Die Oma nickte.
„Es gibt noch eine Oma", rief der Oliver. „Die Oma von der Mama. Aber mit der sind wir bös! Die ist blöd!"
„Oliver", rief die Amtsrätin.
Der Kopf vom Oliver ver¬schwand.
Ich hörte ihn in der Diele kichern. Dann hörte ich die Mama zum Oliver sagen: „Sei brav, ärgere deine Oma nicht!"
Und dann kam die Mama ins Wohnzimmer. Sie hatte den Bademantel an. Ihre Haare waren nass. Und ihr Gesicht war nackt. Ohne Make-up und Lippenstift und falsche Wim¬pern.
Sie zog einen Stuhl vom Esstisch zur Couch, setzte sich und fragte mich: „Wieso bist du nicht in der Schule?"
„Wegen der Ilse", sagte ich. Ich hatte wieder die Wald¬mausstimme. Die Mama zündete sich eine Zigarette an. Ihre Finger zitterten.
„Was hat sie gesagt?" Die Amtsrätin beugte sich zu mir. Sie ist eine bisschen schwerhörig. Sie hatte meine Waldmaus¬stimme nicht verstanden.
„Wegen ihrer Schwester", brüllte die Oma, in der Lautstär¬ke, in der sie zum Opa spricht. Die Amtsrätin zuckte er¬schrocken zusammen.
„Was ist mit der Ilse?" Die Mama hatte auch eine Waldmaus¬stimme. Die Oma stupste mich in die Rippen. Sie wollte, dass ich rede.
Ich schaute die Oma an. Ich wollte, dass sie redet.
„So sagt doch schon!", rief die Mama. „Was ist mit der Ilse?"
Die Oma sagte: „Wenn eine Karte aus Florenz zwei Tage braucht, dann kann man zumindest sagen, dass es ihr vor zwei Tagen noch gut gegangen ist!"
Die Mama lehnte sich im Stuhl zurück. Sie schloss die Augen. Sie gab einen halben Seufzer von sich. Dann gab sie den zweiten Teil des Seufzers von sich. Und die Zigarette in ihrer Hand zitterte nicht mehr.
„Sie hat Ihnen eine Karte geschrieben?", fragte dieAmtsrätin.
„Nein", sagte die Oma.
„Wem hat sie die Karte geschrieben?", forschte die Amtsrätin.
„Sie hat überhaupt keine Karte geschrieben", sagte die Oma.
„Was reden Sie denn da daher?" Die Amtsrätin schüttelte den Kopf.
Die Mama hatte die Augen noch immer geschlossen. An ihrer Zigarette war schon viel Asche. Ich stand auf und holte einen Aschenbecher vom Fensterbrett und stellte ihn der Mama auf den Schoß.
Die Mama machte die Augen auf. Sie streifte die Asche von der Zigarette. Sie sagte: „Hauptsache, sie lebt! Hauptsache, sie kommt wieder!"
Die Oma nickte.
„Und wie ist das jetzt mit der Karte?", fragte die Amtsrätin.
„Das weiß die Erika besser als ich", sagte die Oma. Sie woll¬te noch etwas sagen, doch die Amtsrätin rief empört: „Also, da hat das Kind die ganze Zeit etwas gewusst und nichts gesagt!"
„Nichts hat sie gewusst", schrie die Oma. „Sie hat es heraus¬bekommen! "
„Und dann erzählt sie es zuerst Ihnen, das ist doch ..."
Weiter kam sie nicht, denn die Mama sagte: „Lass doch bitte die Oma reden!"
Sie sagte wirklich: die Oma! Nicht: die alte Janda. Und nicht: die Frau Janda.
Ich weiß nicht, ob es die Oma merkte und ob es die Mama selber merkte, die Amtsrätin merkte das Wort „Oma". Und es störte sie. Sie machte ganz dünne Lippen.
Die Oma sagte: „Also die Erika und ein Freund von ihr haben herausgefunden, dass die Ilse in Florenz ist."
„Allein?", fragte die Mama.
„Natürlich nicht", sagte die Oma. „Sie ist mit einem jungen Herrn in seinem Auto gefahren!" Sie sagte das so, als ob das ganz selbstverständlich wäre, dass man mit einem jung